Kennst du die Thin Blue Line?
Posted: Mai 3rd, 2021 | Author: #PolizeiAbschaffen-Kollektiv | Filed under: Entmachten, Polizei & Nazis | Tags: thinblueline | No Comments »Im September 2020 habe ich auf Twitter einen kurzen Thread zur Symbolik der “Thin Blue Line” geschrieben. Anlass war eine brutale Verhaftung in Pittsburgh, nachdem ein Mensch einen Polizisten auf seinen “Thin Blue Line”-Mundschutz angesprochen hatte. Im Zuge der Recherche wurde mir bewusst, dass das Symbol nicht nur einen problematischen geschichtlichen Ursprung hat, sondern auch in heutige faschistische Narrative eingewoben ist. Da Fürsprecher_innen der Polizei immer wieder versuchen, diese Symbolik aus der Geschichte von Thin Blue Line herauszukürzen, habe ich in diesem Artikel noch einmal alle geschichtlichen Fakten im Detail gesammelt.
Die rote blaue Linie
Die Geschichte der Thin Blue Line begann auf den Schlachtfeldern des Krim-Krieges. Und eigentlich war die Linie rot. Im Krim-Krieg kämpften seit 1853 Frankreich, Großbritannien und ab 1855 auch Sardinien-Piemont gegen Russland.
Zu einem Zeitpunkt als die russische Kavallerie angriff, wurden schottische Infanteristen – in roten Uniformen – als erste Verteidigungslinie eingesetzt. Ihr Kommandant, Colin Campbell, stellte seine Männer entlang eines Hügels auf, nur zwei Soldaten tief anstatt der üblichen vier, und befahl ihnen, ihre Stellung mit allen Mitteln zu verteidigen. William H. Russell, Korrespondent der Times, schrieb hastig, als er zusah: „Die Russen rennen auf die Highlanders zu. Der Boden fliegt unter den Füßen ihrer Pferde; sie nehmen bei jedem Schritt Fahrt auf und rennen auf den dünnen roten Streifen zu, der mit einer Linie aus Stahl gekrönt ist (thin red streak topped with a line of steel).“
Die Hochländer feuerten, als sich die Russen näherten und verursachten auch Schaden. Aber der wahre Grund, warum sich die Russen zurückzogen, war, dass es so ungewöhnlich war, nur eine dünne Reihe von Soldaten dort zu haben – der russische Kommandant dachte, sie müssten eine viel größere Streitmacht hinter sich haben. Russells Beschreibung eines „dünnen roten Streifens, der mit einer Linie aus Stahl gekrönt ist“ wurde zu „dünner roter Linie“ (thin red line) abgekürzt und als Slogan für besondere Tapferkeit in der britischen Armee bekannt.
1881 ehrte der britische Maler Robert Gibb die Schlacht in seinem Gemälde „The Thin Red Line“, und 1892 erzählt Rudyard Kiplings Gedicht „Tommy“ von einer „thin red line of ‘eroes.“. Als Arthur Griffiths 1900 sein Buch The Thin Red Line veröffentlichte, waren die Worte längst zum Synonym militärischer Tapferkeit geworden.
Der erste relevante Hinweis auf die „dünne blaue Linie“ ist ein 1911 veröffentlichtes Gedicht von N.D. Anderson. Es ist beschreibt nicht Polizei, sondern Unionssoldaten während des US-Bürgerkriegs. So behielt die Wendung ihren militärischen Bezug auch als sie nach Amerika kam.
Den Bezug der blauen Linie zur Polizei stellt dann Bill Parker her, von 1950 bis 1966 berüchtigter Präsident des Los Angeles Police Department (LAPD) und glühender Anti-Kommunist. Parker war Katholik und lebte nach strengen konservativen Regeln. Er benutzte seine Position, um das LAPD zu loben und die Öffentlichkeit vor der kommunistischen Bedrohung und nachlässigen Moral zu warnen, die den Untergang der westlichen Zivilisation beschleunigen würde. Nur die Polizei könne die Demokratie und die soziale Ordnung aufrechterhalten.
Parker sah in der Polizei die „dünne blaue Linie“ (thin blue line), die die soziale Ordnung gegen die Kräfte des Verbrechens, des Kommunismus und der moralischen Korruption verteidigte. Das LAPD und die Polizisten in Amerika seien die einzige Kraft, die zwischen Zivilisation und Anarchie steht.
Parker erkannte zwar die Notwendigkeit an, die Bürgerrechte des Einzelnen zu respektieren und auch das Recht der Gesellschaft, Polizei zu kontrollieren, warnte jedoch davor, dass die organisierte Kriminalität davon profitieren würde, wenn die Polizei ihre Arbeit nicht uneingeschränkt verrichten könnte.
Parker starb 1966. Er hinterließ mit Thin Blue Line die Idee einer hoch militarisierten Polizei mit einer „Wir gegen Sie“-Mentalität“ und das Selbstbild des über den Bürger_innen stehenden Polizisten und schaffte mit der Thin Blue Line auch ein Bindeglied zwischen Polizei und bürgerlicher Pop-Kultur.
Das Oxford English Dictionary dokumentierte die Verwendung des Begriffs im Jahr 1962 durch die Sunday Times unter Bezugnahme auf die Anwesenheit der Polizei bei einer Anti-Atom-Demonstration.Thin Blue Line war auch der Titel einer Broschüre der Landesregierung von Massachusetts aus dem Jahr 1965, der sich auf die State Police bezog, und fand auch in Polizeiberichten des NYPD Verwendung. In den frühen 1970er Jahren hatte sich der Begriff landesweit verbreitet. Der Autor und Polizist Joseph Wambaugh half, den Begriff mit seinen Polizeiromanen in den 1970er und 1980er Jahren weiter bekannt zu machen. Errol Morris ‚1987er Dokumentarfilm The Thin Blue Line – über einen im Dienst getöteten Dallas-Polizisten – machte den Begriff populär.
Faschistisch – die Polizei?
Heute erscheint Thin Blue Line auf T-Shirts, Aufnähern und Autoaufklebern und wird online als Meme für Strafverfolgungsbehörden verbreitet. Unternehmen wie Thin Blue Line USA verkaufen Merchandise für die Polizei und ihre Fans, einschließlich einer Flagge, die Amerika mit einer blauen Linie symbolisch in zwei Hälften teilt. „In beiden Versionen steht der schwarze Raum über der blauen Linie für Gesellschaft, Ordnung und Frieden, während der schwarze Raum darunter für Verbrechen, Anarchie und Chaos steht.” (the black space above the blue line represents society, order and peace, while the black below, crime, anarchy, and chaos.) heißt es auf der Website des Unternehmens. In zunehmendem Maß findet Thin Blue Line heute auch in Deutschland Verwendung, ohne das dabei über die problematische Signalwirkung und den militaristischen Ursprung der Symbolik reflektiert wird.
Mit ThinBlueLine wird ein politisches Narrativ in Anschlag gebracht, das der Polizei eine elitäre Sonderrolle in der Gesellschaft einräumt. Zwar gibt es das für diverse andere Berufsgruppen auch, nur handelt es sich bei der Polizei um eine Gruppe mit besonderer Macht, nämlich dem staatlich sanktionierten Recht, bei der Ausübung ihrer Arbeit Gewalt einzusetzen. An diesem Punkt schließt sich der Kreis zur historischen Prägung des Begriffs ThinBlueLine und der Vorstellung Billie Parkers von einer “starken Polizei”, die entschlossen und ungehindert Recht und Gesetz in der Gesellschaft durchsetzt — wie heldenhafte Soldaten im Krieg an vorderster Front.
Es ist fragwürdig, ob ein derartiges Selbstverständnis in der Kriegsführung Platz hat. In einer modernen Zivilgesellschaft ist es aber in jedem Fall hochproblematisch, wenn öffentliche Sicherheitskräfte ihre Aufgabe als Verteidigung von gesetzestreue Bürgern gegen kriminelle Kräfte aller Art versteht. Die Symbolik und Rhetorik von Thin Blue Line beharren dabei auf einer vermeintlichen Gegnerschaft zwischen Menschen in unserer Gesellschaft, die praktisch realitätsfern ist und lediglich ein überhebliches Selbstverständnis der Polizei rechtfertigt. Die Ursachen von Verbrechen lassen sich durch simplifizierte “Gut-gegen-Böse”-Narrative wie Thin Blue Line allemal weder verstehen noch bekämpfen.
Die polarisierende Logik von Thin Blue Line geht in der Praxis mit der Kriminalisierung von Menschengruppen und Milieus einher. In den USA wird der Begriff und seine Symbolik von Black Lives Matter und anderen Kritikern verurteilt, die einen klaren Zusammenhang mit rassistisch motivierter Polizeigewalt und White Supremacy sehen. In Deutschland wird Thin Blue Line häufig im Zusammenspiel mit der Idee der “Polizeifamilie” und Begriffen wie “gegen jeden Extremismus“ verwendet, die dem Hufeisen-Modell entspringen, welches Links- und Rechtsextremes als zwei Seiten derselben Medaille präsentiert und somit antifaschistisches Engagement kriminalisiert. In den USA wie auch in Deutschland erfreut sich Thin Blue Line vor allem in rechten Kreisen hoher Beliebtheit.
Die Bedeutung und Ursprünge von Thin Blue Line sind somit offensichtlich problematisch. Die Menschen in dieser Gesellschaft brauchen keine Sicherheitsbehörden, deren Berufsethos jedem Polizisten Heldenstatus einräumt und besonderen Mut im Kampf gegen das Verbrechen attestiert. Als vermeintliche oder potentielle Gesetzesbrecher sind dabei vor allem Geflüchtete, Drogenkonsumenten, Wohnungslose, Sexarbeiter_innen, Menschen mit mentalen Vulnerabilitäten, BIPoC und andere Gruppen dem Risiko der Kriminalisierung ausgesetzt.
Es fällt schwer, die Symbolik von Thin Blue Line positiv auslegen und es stellt sich die Frage, warum sich Polizeikräfte weltweit ausgerechnet diesen Slogan im wahrsten Sinne des Wortes auf die Fahne schreiben wollen.
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